Aufruf der Destroika

EUROPAS EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN

Eröffnung der neuen Europäischen Zentralbank | Frankfurt Anfang 2015
Aufruf der Destroika zu einer fantastischen Widerstandsbegegnung

Poster German

Poster German

Generalstreiks ohne Auswirkungen, “Aktionstage” ohne Einfluss auf irgendein Ziel, das diesen Namen verdiente; überall – in Portugal, in Spanien, in Italien, in Griechenland – scheinen die Kämpfe über ihren nationalen Bezugsrahmen zu stolpern. Die nationale Ebene, die lange Zeit das Feld der politischen Aktion war, sei es für den Staat oder für die Revolutionäre – ist zur Ebene der Ohnmacht geworden. Eine Ohnmacht, die nationalistische Wut an Boden gewinnen lässt.

Für uns ist der nationale Bezugsrahmen vorbei und gegessen, und das nicht nur, weil die Nation ohnehin schon immer reaktionärer Dreck war. Hier gibt es nichts mehr abzutrotzen. Der Staat tischt auf, was immer die Troika anrichtet. Für uns gibt es nur noch lokal und international.

Die “Troika” aus Europäischer Zentralbank (EZB), Internationalem Währungsfonds (IWF) und der Europäischen Kommission regelt und verwaltet nicht nur ganze Staaten, Haushalte, Regierungen, sondern bestimmt die Lebensbedingungen der Menschen, reduziert sie auf Humanressourcen. Das Gefühl, vom selbsternannten Kerneuropa überrumpelt und beherrscht zu werden, ist in vielen Teilen der Welt tagtäglich spürbar.

Wer ein wenig die Methoden des IWF studiert, weiss, dass sie sich nicht auf eine “Schockstrategie” beschränken. IWF und Weltbank verfolgen eine Doppelstrategie: die Brutalisierung der Gesellschaften durch eine gewaltsame Umstrukturierung der Wirtschaft bei gleichzeitiger Abfederung dieses Schocks durch Kleinkredite, die Ermunterung zur Gründung kleiner ökonomischer Einheiten. Das Ziel: aus allem und jedem überall Unternehmen machen. Aber auch die viel zitierte soziale und solidarische Ökonomie ist kein geeignetes Heilmittel gegen die Schockstrategie, sondern deren effektive Ergänzung. Wir wollen keine bessere Ökonomie, wir wollen das Ende der Kalkulation, das Ende der Evaluation, das Ende der Messung, das Ende der Buchhaltermentalität, in der Liebe wie in der Werkstatt.

Tatsächlich erleben wir eine absichtliche Zerstörung des Sozialen, eine zielgerichtete Verelendung, eine beschleunigte Konzentration von Reichtum und Macht und ein bewusstes Bedienen rassistischer Ressentiments. Deutschland als europäischer Taktgeber all dessen, ist der richtige Adressat für alle, die Ziel dieses sozialen Angriffs sind. Ob Flüchtlinge, die ihr Leben riskieren, Prekarisierte, die mehr und mehr um ihre Existenz fürchten oder der Mittelstand, der mit seiner Sicherheit auch die letzte Illusion verliert – wir werden sehen, wer sich mit uns gemeinsam auf den Weg macht. Es wird Zeit, uns unser Leben zurückzuholen, Gemeinschaft neu zu erfinden und zu organisieren.

Für viele war es genau das, was auf den Plätzen in Tunis, Kairo, Madrid, Istanbul passierte und was weiterlebt in den Vierteln von Thessaloniki, Rom und Barcelona – überall dort, wo wir das Geld, die Techniken, das Wissen und das ganze Leben rund um gemeinsame Orte teilen.

Heute lokal, morgen Frankfurt

Wir haben nicht vor, unsere strukturellen Fehler aus der Anti-Globalisierungsbewegung zu wiederholen: Wir wollen keine professionellen Aktivist_innen, keine rituellen Tumulte, keine abstrahierten und teils sinnentleerten Parolen, die unseren Widerstand haben erstarren lassen. Nicht ohne Grund haben es einige von uns an einem bestimmten Punkt der Bewegung vorgezogen, sich lokal zu verankern, sich der Abstraktion des Globalen zu entziehen, um wieder ein bisschen Wirklichkeit zu finden. In der ausgehenden Anti-Globalisierungsbewegung war uns die vernetzte Luft zu dünn geworden, wir sahen, dass wir ohne eigene Zentren, ohne Land, ohne eine materielle Kraft an echten Orten zu entwickeln, die wir rückhaltlos gemeinsam mit Herz und Hand bewohnen, bald auch nichts anderes sein würden als Politiker_innen, Repräsentant_innen, Verwalter_innen. Bewegungen zu konstruieren, eine neue Linke zu konstituieren nährt nur neue Illusionen.

Wir stellen fest, dass “lokale Kämpfe”, wie derzeit um Wohn- und Lebensräume, an Bedeutung gewonnen haben. Einige von ihnen können sogar mit großer Ausstrahlung das Tempo der Auseinandersetzung eines ganzen Landes vorgeben: Val de Susa in Italien, Notre-Dame-des-Landes in Frankreich, Gamonal in Spanien, Chalkidiki in Griechenland, Lampedusa Hamburg in Deutschland.
Trotzdem schaffen es diese Kämpfe selbst dort, wo sie den Sieg davonzutragen scheinen, nicht, eine gewisse politische Schwelle zu überschreiten, wodurch sie den Regierungen noch stets erlauben, sie als Randerscheinung abzutun.
Wir wären verloren, verblieben wir auf dieser Ebene der Selbstbezüglichkeit. Es ist dem weltweiten sozialen Angriff völlig unangemessen, unsere lokalen Kämpfe nur aneinander zu reihen und sie unter dem Terminus der „solidarischen Bezugnahme“ quasi-künstlich miteinander zu verkleben.

Nachdem sich einige vor zehn Jahren der Abstraktion des Globalen entzogen hatten, scheint nun der Moment gekommen, sich der Anziehungskraft des Lokalen zu entziehen, genau dann, wenn wir es für nötig halten.
Wir kämpfen für und mit den rebellischen Vierteln, Häusern, Halbinseln und Tälern im Rücken. Das ist etwas grundsätzlich anderes als die klassische Vernetzung sich „aufeinander beziehender“ Kämpfe, als die Bündnisse politischer Repräsentant_innen mit ihren sterilisierenden Aushandlungsprozessen, die vor allem sich selbst dienen – wie jede Bürokratie. Die Repräsentanz steht für die Vertretung des Abwesenden – lasst uns dem die reale Präsenz vieler entgegen setzen!

Darum gehen wir nach Frankfurt

Je unverhohlener die Plünderung nun auch in Europa von statten geht, die Gewalt von Unterwerfung und Disziplinierung allgemein wird, umso nötiger wird es, zurückzuschlagen – unsere Strukturen und Freundschaften auch überall dort zu verteidigen, wo dieser soziale Angriff in großem Stil geplant, vorbereitet und in die Tat umgesetzt wird. Und deshalb gehen wir nach Frankfurt: Weil unsere Verteidigung des Angriffs bedarf.

Es ist nötig, die lokalen Bewegungserfahrungen auf eine höhere offensive Ebene zu bringen, über das Nationale hinaus, dem die Bewegungen gegenüber stehen, um den Staat von dort aus in die Zange zu nehmen: auf europäischer Ebene. Daher die Gelegenheit, uns alle wiederzufinden im Angriff auf die Einweihung des Sitzes der EZB, uns zu treffen und unsere Kräfte gegen diesen gemeinsamen Feind zu vereinen.

Der Unterschied dieses Ereignisses zu den Mobilisierungen der Anti-Globalisierungsbewegung ist bereits sichtbar: Es geht nicht mehr darum, sich mit einigen Zehntausend Aktivist_innen zu verabreden, lediglich zu mobilisieren, sondern sich bereits in einer internationalen Diskussion gemeinsam zu organisieren, weit über Frankfurt hinaus.

Es geht darum, dass der ganze Pöbel Europas in Frankfurt zusammenkommt, alle Angestellten am Rande des Nervenzusammenbruchs, alle reingelegten Kleinbürger_innen, alle Tagelöhner_innen und entlassenen Arbeiter_innen, wir alle, die das wahre Gesicht des Feindes sehen und hinein schlagen wollen.

Es geht darum, der diffusen Wut, die überall auf dem Kontinent wächst, ein Ziel zu geben. Wir reden von einer Wut, die sich Bahn bricht und durchaus von einem Aufbegehren als Quittung für Alles, was wir die letzten Jahre ertragen haben. Gegen jene, die das von ihren komfortablen Büros aus zentral eingefädelt haben und gegen jene Administrationen, die dies überall und alltäglich bereitwillig umsetzen.

Die erschreckte Fresse der Bürokraten zu sehen und als Bewegung Seite an Seite zu kämpfen ist der beste Ausweg aus dem neuen europäischen Nationalismus. Europa bietet ebenso wenig wie das Lokale eine Alternative zur Ruine der Nationalstaaten. Nur weil wir den Staat hassen, müssen wir noch lange nicht dem zweifelhaften Charme des Empire erliegen. Europa als solches ist wie die alten Nationalstaaten auch einerseits eine Fiktion und zum anderen eine Struktur des Regierens. Weder das eine, noch das andere steht uns nahe. Wir wollen uns Europa und seine madigen Institutionen nicht aneignen, wir wollen sie zerstören. Eine Ethik des Verzichts, ein Diktat der Leistung und ein Zwang zur Selbstdisziplinierung sind mit unserer Vorstellung von Glück und unserer Idee von Leben nicht kompatibel.

Ein neues Zusammen – eine Achse des Pöbels

Die Antwort sehen wir vielmehr in der unmittelbaren Präsenz derer, die sich wehren, die im Europa der Troika überflüssig gemacht werden und in ihrem individuellen Widerstand gegen den Zwang zur bedingungslosen Selbstoptimierung unterliegen sollen. Wir benötigen im Widerstand gegen diesen konzertierten und hochorganisierten Angriff eine neue Vorstellung von gemeinsam kämpfen.

Nichts ist schlimmer, als einen Angriff zu simulieren. Auch wenn uns durchaus bewusst ist, dass viele unserer Bemühungen im einzelnen symbolisch sind, begrüßen wir jeden ernst gemeinten Angriff, der Protest nicht nur sichtbar, sondern auch spürbar werden lässt.

Nicht die Manager oder reisenden Experten einzelner Bewegungen, die Kämpfe selbst verbinden sich. Nicht aus Solidarität allein, sondern auch aus eigenem Interesse. Versteht uns nicht falsch: Wir wissen um die Kraft und die guten Absichten solidarischen Handelns – dennoch wohnt der Solidarität die inhärente Trennung in ein „wir“ und „sie“ inne. Diese gilt es zu überwinden – eine gewaltige Manifestation aller, die es satt haben und sich ihr Leben zurückholen wollen!

Bereits in den letzten zwei Jahren hat es mit Blockupy und M31 Versuche gegeben, in Frankfurt Protest gegen die Politik der Troika, der EU und Deutschland auf der Straße sichtbar zu machen. Die Reaktion der Staatsgewalt war empfindlich und unerwartet repressiv. Jegliche Aktion wurde im ersten Jahr verboten, die ganze Stadt in Geiselhaft genommen und lahm gelegt, um den Protest zu ersticken. Letztes Jahr wurde eine genehmigte Großdemonstration von der Polizei als politischem Akteur und nicht als Kraft der Exekutive verhindert.

Unsere Erfahrungen in Hamburg im Dezember 2013 haben jedoch gezeigt, dass wir auch im Ausnahmezustand handlungsfähig sind, wenn wir unberechenbar und damit unkontrollierbar bleiben. Eine Vielzahl von Leuten, die über das ganze Stadtgebiet verteilt entschlossen agiert, kann auch ein großes polizeiliches Aufgebot ins Leere laufen lassen.

Wir sehen die Chance, mit den Protesten gegen die Eröffnung der EZB 2014 die verschiedenen Kämpfe Europas zusammenzuführen und so unsere Schlagkraft zu erhöhen. Ziel muss es sein, ähnlich den Protesten gegen Atommülltransporte, die verschiedenen Ausdrucksformen unseres Kampfes als gegenseitige Bereicherung zu verstehen.

Der Unterschied zu den Vorjahren ist, dass der Protest sich dieses Jahr nicht an einem symbolisch gewählten Tag manifestieren soll, sondern dass wir bei der Eröffnung der EZB auf die Mächtigen Europas treffen werden. Außerdem beherbergt die Wirtschaftsmetropole am Main nicht nur die EZB und diverse Hauptverwaltungen multinationaler Banken, sondern auch zahlreiche Versicherer, Immobilien- und Kommunikationskonzerne.

Mit uns ist zu rechnen

Sie glauben, Ihre Rechnung ohne uns machen zu können – dabei verstehen sie nicht einmal, was wir damit meinen, dass wir uns nicht mehr fügen in ihre Welt fortwährender Selbstbewertung, dass wir uns der Vermessenheit ihres Zugriffs entziehen. Ihre Politik der Entwertung alles Lebendigen, der sozialen Verelendung und Zerstörung wird sich rächen. All die Demütigungen in Behördenfluren, die Hetzerei der Hamsterräder, die Scham, schon bald nicht mehr fit, jung und flexibel genug zu sein.
Und weil sie an ihrer Welt umso verbissener festhalten, je offensichtlicher es wird, dass sie zusammenbricht, weil sie eine andere Sprache nicht verstehen, sagen wir: Sie werden die Quittung bekommen …

Die weltweiten Aufstände der letzten Jahre haben gezeigt, dass Revolution durchaus möglich ist.
Sie klopft auch an die Tür Europas – treten wir sie ein.

 

WAS IST, IST – WAS NICHT IST, IST MÖGLICH

(Einstürzende Neubauten)